Wir machens uns zu einfach.

Die Welt scheint immer komplexer, was ein Trugschluss ist. Vor einigen Jahren auf den Punkt gebracht hat es ein Professor, der mir sagte: „Was, du findest, es wird immer komplexer? Ein Schwachsinn. Mehr und mehr wird standardisiert, das Gegenteil ist der Fall!“ Vielmehr wächst Wissen (was die meisten von uns überhaupt nicht benötigen – inklusive mir!). Es erreichen uns immer mehr Informationen, ob relevant oder nicht. Und wir haben immer weniger Zeit, diese Informationen zu verarbeiten und die Transferleistung Denken darüber zu legen, geschweige denn uns ein ausgewogenes, eigenes Bild und eine Meinung zu bilden. Dennoch scheint mir, möchte niemand teilnahmslos diesen Informationen ausgesetzt sein. Gerade in den sozialen Netzwerken nicht. Anstatt dass wir uns mit einem Thema intensiv beschäftigen, beginnen wir zu schreien. In Großbuchstaben. Mit Ausrufezeichen. Und weil sowieso niemand Zeit hat, halten wir unsere Ausrufe ebenfalls schlicht im Inhalt. Zu schlicht. Die andere Seite einer Medaille oder die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß werden überhaupt nicht mehr in Betracht einer Diskussion gezogen.

Warum mich das gerade heute so nervt? Jürgen rief mich vor einigen Monaten an. Ein charmanter Mittvierziger, auf Zack, unheimlich engagiert in seiner Sache. Sein Ding? Werkstätten für Menschen mit Behinderung, kurz WfbM. Seine Aufgabe: Arbeit zu akquirieren. „Sina“, fragte er mich. „Ich wollte mich mal bei dir melden. Hast du neue Ideen, wie wir den Werkstätten Arbeit verschaffen können?“ Ich war völlig verdutzt. „Wie Arbeit?“, fragte ich. „Werdet ihr nicht zugeschüttet von Unternehmen, die sich damit die Behindertenabgabe sparen und gleichzeitig billig Arbeiten verrichten lassen können?“ (Für diesen Satz könnte ich mich heute noch sehr schimpfen!). „Die Zeit ist vorbei. Wir müssen sehr um Arbeit werben! In konjunkturell guten Zeiten geht es, sobald diese aber nachlässt, haben wir das Nachsehen. Ich war sogar auf der Verpackungsmesse. Dort habe ich mir viele Stände angesehen. Oft sagte ich: „Das Geld für Maschinen könnt ihr euch sparen und in Menschen investieren – wir haben viele Menschen, die sehr gerne hier helfen würden!“. Und was bekam ich als Antwort: „Aber das wollen wir doch nicht. Wir wollen die automatisierte Befüllung, volle Automatisierung!“ Diese Ausführung kam mir mehr als bekannt vor. Auch in meinem Projekt manomama gebe ich Menschen den Maschinen Vortritt. Wir haben keinen Taschenautomaten, der 400 Jeanstaschen pro Stunde annähen kann. Dafür Eshan, Florentine, Gino und Gerda, die mit derselben Menge zusammen einen Tag beschäftigt sind. Wir haben keinen Paspelautomaten, der 10.000 Paspeln in acht Stunden nagelt. Wir haben keine Nähroboter und keine Bügelautomaten.

„Dann müsst ihr damit nach draußen, dass es Handarbeit ist“, sagte ich. In meiner Naivität, und verbesserte mein Hirn gleichzeitig, dass Handarbeit stets teurer ist. Das tat Jürgen dann auch. „Es ist viel billiger, die Arbeiten  nach Osteuropa zu geben. Da können wir nicht mithalten.“  Ich biss mir auf die Zunge. Kannte ich. Kenne ich. Hier wertzuschöpfen ist teuer. Ein CEO eines großen Handelskonzerns sagte einst zu mir: „Frau Trinkwalder, ihr größtes Handicap ist es, in Deutschland zu produzieren!“ Mit Handicap, oder ohne – handwerkliche Arbeit ist sauteuer. Gleichzeitig sind nur wenige bereit, die regionale Wertschöpfung zu bezahlen. Diejenigen, die es gerne täten, haben zuweilen meist zu wenig im Geldbeutel, weil sie selbst prekär beschäftigt sind, und diejenigen, die es könnten, machen es nicht. Ein Teufelskreis.
„Ich würde euch gerne mal besuchen“, sagte ich Jürgen und er organisierte eine Tour durch verschiedene Standorte, zu den Metallern, in den Holzbau und in den Verpackungsbereich. Ich hatte Bammel davor. Als kleines Kind musste ich einmal den Bruder meiner Oma (oder meines Opas, ich weiss es nicht mehr genau) besuchen. Im Behindertenheim. Anfang der 80er. Es war kein schöner Besuch. Ein Zimmer, ach was, Saal mit mindestens 8 Betten und irgendwie kamen mir die Menschen, allesamt geistig schwer geschädigt, dort alle alleingelassen vor. Sich selbst überlassen.

Ich war eine Stunde zu früh, hab mich vertan in der Uhrzeit. An der Pforte fragte ich die beiden Menschen im Pförtnerhäuschen – ein kleines Büro mit großem Fenster, ob sie mich schon ankündigen können. „Der Jürgen ist noch unterwegs, aber kommt so schnell wie möglich“, sagte sie freundlich zu mir. Anschließend packten beide ihr Pausenbrot aus und aßen es genüsslich. „Willst du auch was?“, fragte der ältere Herr an der Pforte. „Warten macht hungrig. Warten ist langweilig.“ „Total langweilig“, bestätigte die junge Dame. Ich lehnte lächelnd ab.

Kurze Zeit später ging es für mich durch die Räume – und mein „Kindheitstrauma“ verflog bereits in den ersten Minuten. Lachen und Fröhlichkeit aus schallte aus den Räumen, manche saßen sehr konzentriert vor ihrer Aufgabe, andere spazierten ein bisschen durch die Gegend. Ich ließ mir an vielen Stellen ihre Aufgaben erklären und verbrachte einen wunderbaren Vormittag mit unsagbar offenen, herzlichen Menschen. Wir versuchten gemeinsam, Dichtungsringe auf Wasserhähne zu ziehen und schimpften über den FC Augsburg. Wir machen Quatsch und zählten farbige Haargummis. In diesen zwei Stunden habe ich mehr gelernt als in vierwöchiger Themenanalyse mit Fachliteratur, meinungsbildenden Sozialen Netzwerken und Artikeln. Mehr noch, ich ärgerte mich. Ich bin den lauten Schreien auf dem Leim gegangen. Den nach absoluter Inklusion zum Beispiel. Selbst in einer „besonderen“ Firma wie der meinen, manomama, wäre die Beschäftigung von geistig Schwergeschädigten nicht realisierbar. Oder anders formuliert: ich könnte es nicht verantworten. Ich traute mich nicht. Es wäre schlichtweg zu gefährlich. Maschinen, Messer, Lärm. Es müsste ein extra Raum her. Was also wäre gewonnen? „Aber wenigstens Mindestlohn kann man den Menschen bezahlen!“, könnte man nun schreien. Wird auch dauernd in den sozialen Netzwerken geschrien. Ich wußte nicht, wie die „Preise“ für Arbeiten zustande kommen und ich fragte nach. Der Verantwortliche in der Arbeitsvorbereitung analysiert die Aufgabe und kalkuliert einen Preis auf herkömmliche Weise. Sprich: wie lange braucht ein Mensch ohne Behinderung dafür. Daraus ergeben sich die Kosten. Volle Inklusion, könnte man nun sagen und faire Behandlung, absolut unfair und fehlende Berücksichtigung des Handicaps könnte man ebenfalls sagen. Was nun? Das einzige, das ich weiß, ist, dass es schon verdammt schwer ist in einer sozialen Produktion ohne Akkord und mit Freiräumen, mit Menschen ohne geistiger, sehr wohl aber körperlicher Behinderung 10 Euro Stundenlohn zu realisieren. Und dann dürfen wir das Problem nicht vergessen, dass selbst der Preis, basierend auf heimischer Handarbeit das eigentliche Handicap unserer Wirtschaft ist, egal, wer sie verrichtet. Ich habe selbst den Test gemacht: die Arbeit, die in Osteuropa pro Stück 1,80 Euro inklusive Steuern und Logistik kostet, braucht hier herkömmlich 4,80 Euro. In einer Werkstatt mit behinderten Menschen wird sie mit 6,00 Euro aufgerufen.

„Soll ich diese Eier kaufen“, war vor kurzem die Frage auf Twitter. Dazu wurde ein Foto gepostet von einer Verpackung, auf der stand, dass Menschen mit Behinderung die Produkte eingepackt haben. Ein regelrechter Shitstorm fing bereits wieder an wie „Niemals Ausbeuterei kaufen“ oder aber „Wer damit auch noch kokettiert, darf keine Produkte verkaufen!“. Ich hingegen war der Meinung, dass man selbstverständlich dieses Produkt kaufen kann. Solange wir in einer Leistungsgesellschaft leben, muss jeder Mensch ein Anrecht auf Erwerbstätigkeit bekommen. Das nämlich ist ebenso Inklusion.

Einige Wochen später war die Idee eines gemeinsamen Projekts geboren. Ich rief Jürgen an und bat um ein Angebot. Als ich es erhielt, rief ich erneut an und sagte: „Ich hab noch Luft nach oben. Haut 40% drauf, falls es mal ein bisschen länger dauert!“

Jetzt packe ich die Paletten und dann fahre ich sie in den nächsten Tagen in die  Werkstatt. Gemeinsam tüfteln, wie wir es hinbekommen, um im März zu starten…

2 Antworten auf “Wir machens uns zu einfach.”

  1. Hallo Sina,
    es braucht hier keinen Shitstorm. Im Gegenteil. Danke für diesen Artikel. Bei meinem alten Arbeitgeber haben wir die Werkstätten gerne und oft genutzt. Sie haben uns mit gefalteten Kartons versorgt, wir sie mit der Rohware. Und natürlich die monatlichen Kosten für die erbrachte Leistung. Auch bei uns war der Gedanke der Automatisierung da, wurde teilweise umgesetzt, aber die Werkstätten sind noch da. Ich beneide die Menschen nicht, ich freue mich, dass sie eine sinnvolle, entlohnte Arbeit bekommen. Einzig über die Höhe lässt sich streiten – aber das wird sicher bleiben.

    Unsere Werkstätten haben auch einen Laden mit selbstgemachten Sachen aus Holz oder ähnlichem. Natürlich ist es dort teurer, genauso gern gehe ich aber auch hin, WEIL es Handarbeit ist. Und weil ich weiß, wen ich damit unterstütze.

    Wer als Firma immense Profite einfährt, sollte auch eine soziale Pflicht bekommen und darauf zurückgreifen. Auch wenn es teurer ist. Die reduzierten Gewinne lassen sich trotzdem mittragen.

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