Man muss Chancen ergreifen, wenn sie sich dir bieten! – Wie oft hören wir diesen Satz? Und, wenn wir es mal genauer betrachten: wie viele Chancen hat jeder von uns schon liegen lassen? Mal fehlte die Zeit, mal der Mut. Aus den verschiedensten Gründen schlagen wir Möglichkeiten aus. Was wir alle vergessen, ist, dass es viele Menschen unter uns gibt, die diesen Satz nie hören, denn für sie bieten sich keine Chancen. Was geschieht mit jungen Menschen, die von Geburt an chancenlos erscheinen? Die aufgrund eines Geburtsfehlers (allein das Wort ist eigentlich schon das Falsche!) ein permanentes Handicap durchs Leben mitnehmen und von Anbeginn keine Chance auf Zukunft in unserer Gesellschaft haben? Dann heißt es schlichtweg: Chancen schneidern. Ein Versuch.
Für Menschen, die chancenlos auf dem Arbeitsmarkt waren und sind, „schnitze“ ich bei manomama seit fast zehn Jahren Möglichkeiten und versuche mit jedem Menschen, der dazukommt, gemeinsam eine Aufgabe zu finden, die seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Das klappt oft richtig gut, manchmal ist es ein mühsamer, langer Weg, der zusammen gegangen werden muss. Und gelegentlich scheitern wir – gemeinsam. Interessant ist, dass dabei die augenscheinlich hoffnungslosesten oftmals am besten den Weg zurück in die Erwerbsarbeit finden, hingegen diejenigen, bei denen man genau hinsehen muss, wo nun das Hemmnis sich versteckt, auch mit viel Geduld, Verständnis und Hilfestellung keine Motivation für etwas aufbringen können. Weder für ihr persönliches Fortkommen, noch für das Weiterbringen eines Teams.
Feature statt Fehler
All meine Erfahrung basierten bisher auf der Zusammenarbeit mit und dem Begleiten von Menschen, die im herkömmlichen Sinne nicht oder „nur“ körperlich gehandicapt sind. Und: körperliche Handicaps sind keine, durfte ich in den vielen Jahren lernen. Zu gerne erinnere ich mich an die Situation, als ich mit einer meiner Kolleginnen ein erstes Gespräch führte, sie mir dabei erzählte, dass ihr 40%iger Schwergeschädigtengrad das Metall-Knie ausmache. Ein Programmierer meiner Agentur, der zufällig vorbeilief und den Gesprächsfetzen mitbekam, klopfte ihr spontan auf die Schulter und sagte: „Its not a bug, its a feature!“ Das war vor sieben Jahren. Und: er behielt Recht. Während mir nach vielen Stunden an der Nähmaschine gerne mal das Knie zieht, kann meine Kollegin sorglos Vollgas geben. Ein Handicap also ist immer abhängig von Standpunkt und Umfeld. Doch so einfach ist die Umdeutung nicht immer.
Minderbegabt, aber talentiert!
„Bitte sehen Sie sich die Unterlagen an. Vielleicht können Sie ja etwas tun für meinen Sohn!“, sagte die Dame, die mich im Bürogang abfing, als ich schnurstracks in die Produktion laufen wollte. Hinter ihr stand ein junger, freundlicher Mann, mit Hipster-Ziegenbart und halblangen Haaren, zusammengebunden zum Zopf. „Lässiger Look“, dachte ich im ersten Augenblick. Die Dame drückte mir eine Folie mit Unterlagen in die Hand, entschuldigte sich für die Störung und lächelte. Ich antwortete, wie so oft in solchen Situationen, die nicht selten in diesem Gang stattfinden, mit meiner Standardantwort: „Ich werde sehen, was ich machen kann, aber: versprechen kann ich nichts!“ Wir verabschiedeten uns und ich ging, wie geplant, die lange Treppe hinunter in die Produktion. War einen ersten Blick aufs Deckblatt und dachte bei mir: „Was soll ich für den jungen Kerl denn tun? Der macht doch einen super Eindruck!“. Einige Seiten später wurde mir klar, dass Handicap nicht gleich Handicap ist. Der junge Mann verfügt seit Geburt über eine deutliche Minderbegabung, kurz einen geringen IQ. Er ist in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, und sein größter Wunsch wäre eine Ausbildung zum Modeschneider. Nach vielen Stunden des Hadern und Nachdenkens wollte ich nurmehr eine Antwort wissen auf die Frage: „Heißt Minderbegabung auch, kein Talent zu besitzen?“
Wir vereinbarten ein Praktikums zur Feststellung einer Ausbildungseignung. Vierzehn Tage nahmen sich meine beiden Ausbilderinnen Gerda und Agnes dem jungen Mann an. Täglich sprach ich mehrmals mit den beiden, dann mit ihm. Irgendwie wollte niemand von uns Fehler machen, nichts unversucht lassen, alles berücksichtigen. Heute weiß ich, dass es nur einen Fehler gegeben hätte: Nichts zu tun! Zwei Wochen später waren wir uns alle einig: den jungen Mann kriegen wir praktisch durch die Prüfung. Natürlich werden wir viel Zeit und Geduld benötigen, aber das ist es uns wert: gemeinsam mit ihm eine Chance zu schneidern.

Notenschutz & Nachteilsausgleich
Leider waren wir uns ebenso unisono einig, dass wir das Absolvieren des schulischen Parts deutlich schwieriger bis nahezu unmöglich sahen und sehen. Auch, wenn viele glauben, dass das Schneiderhandwerk ein einfaches ist, benötigt man eine gehörige Portion Mathematiktalent für die Schnittkonstruktion und Gradierung, und räumliches Vorstellungsvermögen. Sollte also der Versuch schon vor Beginn scheitern?
Heute morgen, kurz nach acht, klingelte mein Telefon. „Regierung von Schwaben hier, Sie haben gestern angerufen“, sagte die freundliche Stimme am anderen Ende. Ich bejahte und erklärte den Grund meines Anrufs: die Bayerische Schulverordnung, kurz die BaySchu. Detailliert schilderte ich meine Sorge und fragte, um ehrlich zu sein, eher hoffnungslos, nach Möglichkeiten. Und dann kam die Überraschung und für mich eine Lehrstunde in Möglichkeiten.
Für die Strukturierten unter euch: §31ff der BaySchu. Der junge Mann kann schulische Hilfe in Anspruch nehmen, es gibt Möglichkeiten eines Nachteilausgleichs (zum Beispiel einen Zeitausgleich bei zu absolvierenden Prüfungen) und, das war mir am wichtigsten, den sogenannten Notenschutz. Durch diese Regelung besteht die Möglichkeit, dem Schüler in Teilbereichen eine Zensurbefreiung zu ermöglichen. Als ich auflegte, war ich etwas sauer. Denn: ich wußte nichts von diesen Möglichkeiten. „Und wenn ich davon schon nichts weiß, wie sehr tappen andere Unternehmer dann hierbei im Dunkeln“, fragte ich mich. Anschließend griff ich erneut zum Telefon und sprach mit der Mutter. Gemeinsam besprachen wir die nächsten Schritte. „Wenn wir, wir Eltern, die Schule und Sie als Unternehmen engmaschig zusammenarbeiten, wird dieser Versuch lohnen“, sagte sie. „Mit engmaschig kenne ich mich als Textiler aus“, antwortete ich. Und wird lachten.
Möglichkeiten für Chancen
Es geht also. Mühsam muss man sich die einzelnen Informationen zusammentragen, aber es geht. Es gibt so viele versteckte Möglichkeiten, die Chancen ermöglichen. Wir müssen sie nur nutzen. Der größte Schritt aber ist wohl von uns Nichtbetroffenen zu gehen. Klar, manchmal ist eine Inklusion unmöglich. Aber es ginge viel öfter, als wir „Unbehinderten“ denken. Wir selbst nämlich sind in unserer Denke schlichtweg gehandicapt. Und: uns fehlt die grundlegende Demut (ich nehme da mich nicht aus!). Mit einer Selbstverständlichkeit leben wir unser freies, nicht gehandicaptes, Leben. Statt dafür täglich dankbar zu sein und aus dieser Dankbarkeit heraus jenen zu helfen, die ein echtes Handicap haben, gehen wir sorglos und blind durch den Tag. Wir scheuen die Mühen, aus Bequemlichkeit. Dabei müssen wir einfach nur mal den Blickwinkel ändern, uns bewußt werden, welch großes Glück jeder von uns hat. Dieses Brett vor dem eigenen Kopf wegdenken ist der erste Schritt in ein barrierefreien Miteinander.
So geschieht es zumindest bei mir derzeit.
Wieder was gelernt. Danke dafür!
Liebe Sina,
interessant, was du zum Nachteilsausgleich an Schulen schreibst. Ich unterrichte seit nunmehr fast zehn Jahren an einer Schule des 2. Bildungswegs. Dort holen Menschen mit sogenannten „gebrochenen Bildungskarrieren“ ihr Abitur nach. Geflüchtete, schwerbehinderte, psychisch kranke Menschen sitzen in meinen Klassen. Da heißt es oft, organisatorisch Dinge möglich machen, die in den Standard-Regelwerken gar nicht vorgesehen sind. Wie „schreibt“ z.B. ein Studierender seine Klausur, der aufgrund einer spastischen Lähmung gar keinen Stift halten kann?
Ich lerne dadurch selbst sehr viel und bin dankbar dafür. Danke auch für deine Arbeit und deinen Text!
Viele Grüße, Sarah („Sunnybee“)
Liebe Sunnybee, mir ging es heute genauso: ich dachte, mich bereits gut auszukennen in Sachen Möglichkeiten. Aber – der freundliche Mitarbeiter der Regierung von Schwaben lehrte mich viel Neues. Eben die §31ff – §35 der Bay Schu. Und ich war begeistert. Ebenso freut es und begeistert mich, wenn wir alle voneinander lernen können. 😉
Liebe Sina, ich finde es toll wie du mit dem Thema Inklusion umgehst und wie stark du dich für diese Menschen einsetzt. Ich selbst arbeite in einer Werkstatt für behinderte Menschen und leite da den Bereich Druck und Design. Unter uns Kollegen haben wir auch sehr oft das Thema Inklusion und die Chancen für unsere Beschäftigten. Es ist viel passiert in den letzten Jahren und in der Beruflichen Bildung für behinderte Menschen gibt es jetzt viel mehr Möglichkeiten. Leider fehlt es an entsprechenden Arbeitgebern, die Menschen mit Handycap einstellen bzw. die sich den Mehraufwand der damit verbundenen ist aus marktwirtschaftlichen Gründen leisten kann. Ich fände es toll wenn mehr Unternehmer ihrem Beispiel folgen würden.